Dieser Artikel erschien im MUT-Macher 01/2019 am 27. Februar 2019.

Der Kinderbauernhof im Wandel der Zeit

 

Herbst 1992, ein erfolgreiches Jahr für den Kinderbauernhof Görlitzer e.V. in Berlin-Kreuzberg ist fast vorbei: Der Pachtvertrag mit dem Grünflächenamt ist nach vielen aufreibenden Diskussionen unter Dach und Fach. Die neuen Nutzungsflächen im Rahmen der Parkgestaltung stehen dem Hof zur Verfügung. Der Park für die Anwohner auf dem ehemaligen Bahnhofsgelände nimmt Gestalt an, und der Antrag für ein Gemeinschaftshaus auf dem Kinderbauernhof ist am Laufen. Die Finanzierung über den Senat ist abgesichert, und die neue Kollegin steht vor der Tür.

Ein Bericht von Claudia Hiesl, Leiterin Görlitzer Kinderbauernhof

Mit diesen optimalen Voraussetzungen begann meine Arbeit auf dem Kinderbauernhof. Aber schon nach ziemlich kurzer Zeit musste ich feststellen, wie schwierig der Alltag auf dem Hof war. Es gab neben den Stallungen für die Tiere nur eine kleine Hütte, in der alles untergebracht war, die Kinder und Jugendlichen, die BetreuerInnen, das Büro, die Küche und selbst die Toilette. Eigentlich fehlten nur die Tiere, aber mit der vorhandenen Tiefkühltruhe war selbst Jean Rose, das frisch geschlachtete und in Einzelteilen konservierte Schwein, mit dabei. Es war der einzige, mit einem kleinen Allesbrenner, beheizbare Raum, im damals sehr tristen und kalten Berliner Winter. Ich war leicht verzweifelt und gab mir maximal eine Wintersaison vor Ort. Und dann kam der Frühling, alles blühte auf, der Hof wurde herrlich bunt, und die Stimmung bei Mensch und Tier war schlagartig eine andere. Und die Bewilligung für den Bau des so notwendigen Gemeinschaftshauses war durch, und wir feierten, wie so viele Male noch in Folge, unsere erfolgreichen Projekte. Es gab so viel zu tun, und ich blieb! Mit der Einweihung des neuen Gemeinschaftshauses war die Welt des Kinderbauernhofes eine andere. Waren bis dahin die Nutzflächen, Ställe und Tiergehege das Wichtigste, so durfte sich jetzt die Fantasie frei entfalten, und zusätzliche Angebote für Groß und Klein nahmen Gestalt an. Die Wintertage wurden am offenen Kaminfeuer verbracht, in der Küche gebrutzelt und gebacken und das gemeinsame Essen zu einem genussvollen Erlebnis. Der Zulauf an Kindern aus der umliegenden Nachbarschaft war enorm und spiegelte sich in den zahlreichen Arbeiten mit den Tieren wieder, in den unzähligen Tierpatenschaften, bei den Pflegetieren und dem gemeinsamen Gestalten des Außengeländes. Besonders beliebt war die Möglichkeit, bei einer der sogenannten Kinderbauernhofbands mitzuspielen, die regelmäßig im Gemeinschaftshaus angeboten wurde. Ferienreisen konnten jeden Sommer stattfinden, und selbst ein Bus stand dafür und für die alltäglichen Belange vor Ort zur Verfügung. Die Zeiten waren günstig und finanzielle Mittel vorhanden.

Eine Schließung des Kinderbauernhofs drohte

2002 änderte sich dies schlagartig mit dem Vorschlag der damaligen Bezirksbürgermeisterin, den Kinderbauernhof zu schließen. Einsparungen waren im Rahmen der bezirklichen Umstrukturierungen angesagt. Keiner, selbst wir, hatten nicht mit der großartigen Unterstützung aus der Kreuzberger Bevölkerung gerechnet. Mit der Kampagne „Schwein muss sein“ wurde eine Lawine in Gang gesetzt, die Politik und Behörden dazu brachte, den Vorschlag schleunigst zurück zu nehmen. Trotzdem blieb eine Kürzung um fast 30% übrig! Zu viel, um so weiter zu machen wie bisher. In dieser großen Notlage standen Angela Anders und Christine Geburtig vor der Tür. Mensch-Umwelt-Tier e.V., davon hatten wir noch nie gehört, und wir dachten damals tatsächlich, das Ganze hätte einen gewaltigen Haken, nur welchen? Sie boten uns ihre Unterstützung an, und wir nahmen überaus dankbar an. Damit konnte unsere Angebotsqualität gesichert bleiben und die befürchteten massiven Einschränkungen verhindert werden. „Jetzt erst recht“ war unser Motto, und wir gingen in die Vollen. Ein Anbau an das Gemeinschaftshaus musste es sein, damit wir den Bedürfnissen unserer sogenannten Stammkinder gerecht werden konnten. Kleingruppenarbeit, Hausaufgabenhilfe und ein möglicher Rückzugsraum waren die angesagten Themen, und für die Umsetzung erhielten wir eine großartige Unterstützung.

Finanzielle Mittel wurden im Schnellverfahren bewilligt, und das Oberstufenzentrum für Bautechnik I übernahm die Realisierung. Auch diese Einweihung wurde mit entsprechender Begeisterung gefeiert. Fast zeitgleich entstand mit ehrenamtlicher Hilfe der Wasserspielplatz für unsere kleinsten Besucher und die damit verbundene Sandspielplatzanlage. Nicht nur die Angebotsmöglichkeiten durch Gemeinschaftshaus und Anbau nahmen an Qualität und Umfang zu, sondern auch die unterschiedlichen Nutzungen der vorhandenen Kinderbauernhoffläche.

Ein Interkultureller Garten wurde angelegt.

Mit dem Deutsch-Türkischen Umweltzentrum wurde im zeitlichen Anschluss ein sogenannter „Interkultureller Garten“ initiiert. Er bot der Nachbarschaft die Möglichkeit, gemeinsam und im eigenen Beet eine Gartenfläche zu bearbeiten und zu nutzen. Ein voller Erfolg! Bis heute zeugt die lange Warteliste der möglichen BewerberInnen davon und selbstverständlich die herrlich bunten Beete im Sommer. Aber nicht nur der interkulturelle Garten war ein Magnet für die Anwohnerschaft, auch unser Familiencafé am Sonntag wurde zum überaus beliebten Treff für Groß und Klein und unsere Waffeln sind bis heute legendär. Ebenso ist der einmal im Monat stattfindende Kinderflohmarkt (außer in der Winterzeit) zur festen Institution geworden.

Obwohl der Kinderbauernhof ursprünglich als Lernort der Vermittlung von Zusammenhängen in der Natur und im Umgang mit Tier und Pflanzen für Kinder konzipiert war, lässt sich die gesamte Nachbarschaft nicht mehr wegdenken. Es hat sich mit den Jahren gezeigt, dass der Kinderbauernhof zu einer Oase für Groß und Klein geworden ist und alle diesen Ort mit großer Leidenschaft für sich beanspruchen. 2012 – unser Fest zum 30-jährigen Bestehen des Kinderbauernhofes zeugte mit seinen vielen begeisterten BesucherInnen von der großen Akzeptanz im Kiez und weit darüber hinaus.

Wir bauten einen neuen Stall für die Großtiere

Wenn jemand meint, dass es nun mit den Baustellen ein Ende hätte, täuscht er /sie sich: Nach fachlichen Vorgaben von Seiten des Veterinäramtes für eine artgerechte Unterbringung der Tiere, wurde ein neuer Stall für die Großtiere notwendig. Zeitgleich sollte der alte saniert werden. Ein großartiges Projekt zum Wohle unserer Tiere, aber mit sehr viel Aufwand und hohen Kosten verbunden. Auch dieses Mal funktionierte es und wieder waren mit großer Unterstützung dabei: das Oberstufenzentrum für Bautechnik I und II waren in vollem Einsatz, in Planung, wie Ausführung. Das Grünflächenamt, M.U.T e.V., Vattenfall und viele Kleinspender vor Ort, sie alle haben dazu beigetragen, dass wir gemeinsam, einschließlich Veterinäramt und last but not least unsere Tiere, überaus zufrieden sein konnten. Nach über 30 intensiv genutzten Jahren war auch die Unterbringung der Kleintiere erneuerungsbedürftig. Der Hühner- und Gänsestall wurde entsprechend dem Aussehen des Gesamtgebäudekomplexes saniert. Mit Unterstützung von M.U.T und dem Lions Club Berlin Europacenter wurde ein neues Kaninchenhaus mit großem Aussengehge errichtet. „Besser geht nicht“ war der begeisterte Kommentar unserer Amtstierärztin!

Claudia Hiesl

Ein Kommentar zum Abschied von Claudia Hiesl

Claudia Hiesl ist eine beeindruckende Frau. Mit Elan und Power begegnete sie auf dem Kinderbauernhof Görlitzer e.V. in Berlin Kreuzberg den verrücktesten Herausforderungen und stellte sich oft schwierigeren Konflikten mitten in einer der sozialen Brennpunkte der Hauptstadt.

Von Alexandra Pfitzmann

Die gelernte Sozialarbeiterin schaltete und waltete ihres Amtes als Pädagogin auf dem Kinderbauernhof seit 1992. Glücklicherweise hat sie damals kurz nach Arbeitsbeginn nicht der Mut verlassen, und sie blieb. Sie wurde zum festen Anker der Einrichtung. Sie wischte Tränen von Kinderwangen, versorgte verletzte Tiere, beruhigte aufgeregte Eltern und sorgte ganz nebenbei für ein kunterbuntes Programm in dieser wunderschönen Stadtoase. Kinder werden hier aufgefangen, sie haben optimale Freizeitmöglichkeiten mit spielerisch verpackten Lerninhalten zum Thema Mensch, Umwelt und Tier. Daher befand der damalige Vorstand von Mensch-Umwelt-Tier im Jahr 2002, dass eine Partnerschaft hier auf idealem Grund steht. Ich erinnere mich gut an den Tag unseres Kennenlernens, damals im April 2002. Claudia demonstrierte viel Stärke, und schnell war deutlich, dass wir gut zusammen passen.

Unkompliziert ist sie, flexibel, sehr humorvoll, und ihre unerschütterliche Energie ließ mich persönlich so manches Mal staunen. Selbst als die Problematik mit den Drogendealern im Park aufkam, hat sie nicht gezuckt, sondern ist auch dieser Herausforderung mit Entschlossenheit begegnet. Fehlen wird sie. Man sagt zwar immer so schön, dass jeder Mensch in seiner Tätigkeit austauschbar ist, und dass andere Menschen Dinge oft anders, aber natürlich auch gut machen. Bei Claudia bin ich sicher – es geht hier nicht nur die Leiterin einer traumhaften Einrichtung für Kinder und Tiere, es geht eine Institution, das Herz. Eine Tätigkeit von fast 30 Jahren vor Ort lässt sich nicht einfach austauschen. Eine Lücke wird auf dem Hof immer bleiben. Ich wünsche mir, dass die Nachfolge eine geschickte Brücke darüber bauen kann. Mir fehlt sie dort jetzt schon. Danke, liebe Claudia, für eine großartige Zeit zusammen! Alles erdenklich Gute für Dich.

Brennpunkt Kreuzberg

Der Kinderbauernhof war von Anfang an eng mit der Entstehung des Görlitzer Parks verbunden. Geboren zwischen Sandhügeln und Relikten aus einer anderen Zeit, entwickelte er sich über die Jahre zu einer anerkannten und allseits geschätzten Einrichtung. Stets war dabei der Blick auf die Situation im entstehenden Park geboten und selbstverständlich war es, an den vielen, im Laufe der Jahre stattfindenden, Beteiligungs- und Diskussionsrunden teilzunehmen. Dabei war immer unser Hauptanliegen, die Sensibilisierung für die Situation der Kinder in und um den Park zu schärfen. Ging es zunächst um Sicherheit, Dunkelheit, Müll und Alkohol im Park, so wurde in den letzten Jahren der Drogenhandel mit all seinen Folgeerscheinungen zum wichtigsten Thema. Die Auswirkungen waren überdeutlich auch im Kinderbauernhof zu spüren: Kinder und Familien waren verunsichert und fingen an, den Park zu meiden und besuchten verstärkt und oftmals ausschließlich den Hof. Wir mussten Lösungen finden, damit unsere Arbeit in überschaubaren Bahnen weiterlaufen konnte. Der Kinderbauernhof sollte größer und die Flächen nach NutzerInnen Interessen klarer abgegrenzt werden. Durch zwei Teilstücke, die wir über das Grünflächenamt zugewiesen bekamen, konnten wir das sogenannte Chill Idyll, ein Rückzugsort für die Stammkinder, vergrößern. Der Bolzplatz und in Folge der Bewegungsgarten konnten in die Tat umgesetzt werden. Die Finanzierung dieser drei Projekte wurde von unseren Stammkindern bei der Kinderjury beantragt und bewilligt und stand ausschließlich ihnen zur Verfügung.

Das Gemeinschaftshaus bekam klare Nutzungsregeln für alle, und die Feuerstelle blieb zu den entsprechenden Zeiten ein Magnet für Groß und Klein. Selbstverständlich konnten unsere Tiere auf den Weiden während der Öffnungszeiten stets von allen beobachtet werden. So schafften wir eine Atmosphäre, die es uns erlaubte, unsere praktische und pädagogische Arbeit auf gleichem Niveau wie bisher weiter zu führen und den Bedürfnissen unserer vielen Besucherfamilien gerecht zu werden. Aber auch die Beteiligung an den neu entstandenen Parkrunden mit Parkmanager und Parkläufern war und ist immer noch von großer Bedeutung. Nicht nur die Situation im Park beeinflusst unsere Arbeit auf dem Hof, sondern auch die Entwicklung in der unmittelbaren Nachbarschaft. Bis vor wenigen Jahren waren hauptsächlich Kinder aus sozial schwachen Familienverhältnissen auf dem Hof anzutreffen. Dies hat sich in den letzten Jahren wesentlich verändert. Für unsere vielen Tier AGs, für den Tierführerschein und die beliebte Hof-AG melden sich verstärkt Kinder mit bildungsnahem, gut abgesichertem Familienhintergrund an. Sie sind nicht in erster Linie an Familienersatz und Beziehungen interessiert, wie das oft bei den Stammkindern der Fall ist, sondern an dem Ort mit seinen vielen Möglichkeiten. Dies miteinander in Einklang zu bringen, allen Kindern mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden, stellt eine große Herausforderung dar.

Und schließlich wieder eine Baustelle

Das Futterhäuschen! In diesem Winter fertig geworden. Auf Wunsch unserer Amtstierärztin kann nun das gesamte Futter für unsere Tiere ausgelagert, extra untergebracht werden und entspricht damit allen formalen Vorgaben des Veterinäramtes. Alle Ställe sind saniert, der Kaninchenstall mit seinem Außengehege ist ein besonderer Anziehungspunkt auf dem Hof, ebenso die beiden neuen Ponys, „Lollipop“ und „Lion“ und nicht zu vergessen, die neue bunte Geflügelschar, einschließlich der laut zu vernehmenden Perlhühner und der Wachteln in ihrem neuen Gehege. Und wer jetzt meint, das war‘s, mehr geht nicht, täuscht sich gewaltig, denn ganz sicher gibt es auch in Zukunft noch jede Menge Ideen für den Kinderbauernhof im Görlitzer Park.

Frühjahr 2019 – eine erfolgreiche Zeit kann weiter gehen – der Pachtvertrag mit dem Grünflächenamt ist mit seinen erweiterten Flächen ohne aufreibende Diskussionen und im guten Einvernehmen unter Dach und Fach. Alle Nutzungsflächen und Räume werden mit Begeisterung und intensiv genutzt. Die Parkgestaltung ist abgeschlossen, fordert aber nach wie vor großes Engagement, auch für die Zukunft. Die Finanzierung des Kinderbauernhofes ist über Jugendamt und M.U.T abgesichert.

Und ich verabschiede mich.